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Das Versprechen Ganztagsschule: Gute Idee, schwierige Umsetzung?
Ab 2026 soll es einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für neu eingeschulte Grundschulkinder geben. Damit soll unter anderem die Betreuungslücke nach der Kita geschlossen werden. Lässt sich das Vorhaben trotz des akuten Fachkräftemangels umsetzen?
Die Erwartungen an eine gute Ganztagsschule sind hoch: Die längeren Betreuungszeiten sollen Eltern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern. Für Kinder bedeutet Ganztagsschule im Idealfall mehr Zeit für individuelle Förderung, Vertiefung der Unterrichtsinhalte sowie Hausaufgabenhilfe – und damit mehr Chancengleichheit. Laut einer Studie vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung wirkt sich der Besuch einer Ganztagsschule beispielsweise positiv auf das Sozialverhalten aus: „Eine qualitativ hochwertige Ganztagsbildung eröffnet Kindern vielfältige Chancen. Unabhängig von ihrer sozialen Lage können sie Interessen entwickeln, ihre Stärken und Talente entfalten und sich selbstbewusst im Sozialraum bewegen“, meint die GEW-Vorsitzende Doreen Siebernik.Mehrwert nur durch Qualität
Jüngere Forschungsergebnisse legen allerdings nahe, dass die Ganztagsschule nicht zwangsläufig zu besseren Leistungen führt. Viel ist abhängig von ihrer Qualität. Schließlich soll es nicht nur um Betreuung gehen, sondern auch um gezieltes Fördern. Dafür braucht es ausreichend geschultes Personal, entsprechende Räumlichkeiten und Ausstattung sowie pädagogische Konzepte. Ganztagsschule bedeutet neben Hausaufgabenhilfe eben auch Nachmittagsangebote wie AGs, Ausflüge, Förderkurse und Projektarbeit. Umgesetzt wird all das idealerweise durch ein gut verzahntes multiprofessionelles Team. Viele Voraussetzungen, die in der Praxis vielfach nicht gegeben sind. Ein Bündnis aus mehr als 30 Akteuren, darunter die GEW, verlangt daher von Bund, Ländern und Kommunen einen gemeinsamen, verbindlichen Qualitätsrahmen für die Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern. Eine ihrer Forderungen dabei: „Sozialpädagogische Fachkräfte, Lehrkräfte, Koordinierungs- und Leitungskräfte sowie Fachkräfte anderer Professionen, die je nach Konzept eingebunden werden, sollten nach einem festzulegenden, wissenschaftlich fundierten, kindgerechten Schlüssel im Ganztag eingesetzt werden.“ Wie genau dieser auszusehen hat, legen die Verbände jedoch nicht fest – und bislang gibt es nur wenige Daten zur Personalausstattung in schulischen Ganztagsangeboten.
Hoher Bedarf trifft auf fehlendes Personal
Bundesweit nahmen 2020/2021 knapp 3,5 Millionen Kinder und Jugendliche am Ganztagsschulbetrieb teil. Das ist fast jedes zweite Kind in Primarbereich und Sekundarstufe I, doch den Bedarf deckt das laut Bundesfamilienministerium bei Weitem nicht. Dieser wird auf 75 bis 80 Prozent geschätzt – und soll in wenigen Jahren auch gedeckt sein. Denn nach der schrittweisen Einführung soll ab August 2029 jedem Grundschulkind der Klassenstufen eins bis vier eine Betreuung im Umfang von acht Stunden an allen fünf Werktagen angeboten werden. Bis auf maximal vier Wochen soll das auch in den Ferien gelten. Doch was in einigen Ländern wie Hamburg bereits funktioniert, ist deutschlandweit eine immense Herausforderung: „Bis zum Jahr 2030 müssten die Kommunen mindestens 600.000 Ganztagsplätze zusätzlich schaffen, was allein aufgrund der angespannten Personalsituation im Bereich der Erzieherinnen und Erzieher nicht realisierbar sein wird«, sagte Gerd Landsberg im Juni der „Augsburger Allgemeinen“. Die mehr als 100.000 erforderlichen Erzieher:innen gebe es nicht. Der Geschäftsführer vom Deutschen Städte- und Gemeindebund hält das Ziel für „richtig“, aber zum versprochenen Termin flächendeckend schlicht nicht für umsetzbar.
Marode Schulen und fehlende Investitionen
Bereits ohne den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung steckt das Bildungswesen in einer Krise. Laut einer Studie des VBE vom vergangenen Jahr fehlen bis 2030 insgesamt 81.000 Lehrkräfte. Das belastet das vorhandene Lehrpersonal, führt zu Unterrichtsausfall und mangelnden Kursangeboten. 18.400 benötigte Lehrkräfte mehr kommen laut Bildungsforscher Klaus Klemm noch hinzu, bezieht man den Ganztagsausbau mit ein. Dazu kommt ein Investitionsrückstand bei Gebäuden und Räumlichkeiten.
Große Unterschiede zwischen den Bundesländern
Spannend zudem: Zwischen Ost und West herrschen starke Unterschiede. Berechnungen der Bertelsmann Stiftung zeigen, dass ostdeutsche Länder bis 2030 tatsächlich jedem Kind einen Ganztagsplatz bieten können und sich daher auf Qualitätsverbesserungen konzentrieren sollten. In westlichen Bundesländern dagegen, beispielsweise in Schleswig-Holstein und Bayern, müssen noch zahlreiche Plätze geschaffen werden, um den Rechtsanspruch flächendeckend zu erfüllen. Traditionell ist die Lage im Osten besser, weil Kinder dort schon zu DDR-Zeiten in Schule und Hort ganztags betreut wurden. In den Bundesländern Brandenburg, Hamburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen gibt es zudem bereits einen Rechtsanspruch und eine hohe Ganztagsbetreuungsquote von bis zu 90 Prozent.
Gelingender Ganztag
Dass Ganztagsbetreuung vielerorts tatsächlich bereits gut gelingt, zeigen diverse Schulporträts auf der Website www.ganztagsschulen.org des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Da ist beispielsweise die Grundschule Hude-Süd in Niedersachsen, seit 30 Jahren eine offene Ganztagsschule. Aus ihrer eigenen Erfahrung heraus möchte Schulleiterin Birte Kempers auch anderen Schulleitungen Mut machen: „Fangen Sie an. Wachsen Sie Stück für Stück und überprüfen Sie regelmäßig Ihr Konzept.“ Die sportfreundliche Grundschule organisiert ihren Ganztag für rund 120 Schulkinder selbst und kooperiert dabei eng mit dem örtlichen Sportverein. Zudem setzt die Schule auf multiprofessionelle Teams: Lehrkräfte, pädagogische Mitarbeitende sowie zwei FSJler gestalten das Programm. Was sich Schulleiterin Kempers allerdings wünschen würde, sind Zertifizierungskurse für Personal, das später das Ganztagsteam ergänzt. Der Weg zu einem gelungenen Ganztag wird hier als ein Prozess verstanden, der immer weitergeht und alle Beteiligten miteinbezieht. Lehrerin Finja Balzerkiewitz bilanziert: „Wir Lehrkräfte kennen jedes Kind, wissen, was es benötigt, haben eine Beziehung zu ihm. Darum fühlen wir uns auch dann verantwortlich, wenn wir beispielsweise am Nachmittag nicht dabei sind.“
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